2016 |
Gennady Karabinskiy - Ein Moment der Ruhe |
Luisa Jansen |
Auch ich heiße Sie heute herzlich Willkommen zur Eröffnung dieser bemerkenswerten Ausstellung, einer Ausstellung mit Werken des in Oldenburg arbeitenden Künstlers Gennady Karabinskiy, eine Ausstellung, die mir und Ihnen – so steht es im Titel – einen ,Moment der Ruhe‘ verspricht. Schauen wir uns um, so strahlt uns ein Farbenmeer entgegen. Leuchtende, kontrastreiche, satte, strahlende Farben bestimmen unsere ersten flüchtigen Blicke auf diese Bilder. Sie wecken unsere Aufmerksamkeit, ziehen uns an, oder lassen uns Abstand nehmen, um besser erkennen zu können, welche Formen und Motive die Farbflächen hervorbringen. Farbe affiziert, regt an, weckt auf... wo also ist er zu finden, der ,Moment der Ruhe‘? Betrachten Sie mit mir das Öl-Bild mit dem Titel ,Junge‘, das auch die Einladungskarte für die heutige Eröffnung schmückt und hier in der Ausstellung in einer der Vitrinen präsentiert wird. Nah und eindringlich zeigt sich uns hier das Gesicht eines Jungen. Geboten wird uns ein Blick auf die Details seines Gesichtes: die vollen, wulstigen Lippen, die kleinen Ohren, die hervorstehende Nase mit dem tiefschwarzen Nasenloch und die großen, mandelförmigen Augen mit der magentafarbenen Iris, welche hinter schweren, blauen Augenlidern zu verschwinden droht. Angeblickt werden wir von diesen Augen, in denen eine gewisse Schwermut liegt, eine Melancholie, die dazu einlädt, sich in ihr fallen zu lassen, sich ihr hinzugeben, sich in ihr zu spiegeln und in diesem Gegenüber einen Augenblick des Für-Sich-Seins, einen ,Moment der Ruhe‘ zu finden. Je eindringlicher wir jedoch blicken, desto stärker scheinen sich die zunächst so klar wirkenden Formen – die Nase, die Lippen, die Augen – zu zerteilen. Sie demontieren und dividieren sich in zahllose Farbfelder verschiedener Größe und Struktur. Flächen, Wülste, Punkte, Streifen und Furchen in Blau, Orange, Grün, Gelb, Schwarz lassen das uns so vertraut gewordene Gesicht des Jungen vor unseren Augen entgleiten, während die leuchtenden Augen uns weiterhin zu fixieren scheinen. Das Gesicht wandelt sich vom Motiv zur gemalten Fläche, zur Struktur, zur Malerei. Auf diese Weise erschafft der Künstler Gennady Karabinskiy, der sein Schaffen in der Tradition jüdischer Künstler wie Mark Chagall, Amadeo Modigliani und Anatoly Kaplan begreift, Bilder von Menschen als Malerei, Gesichter als Kompositionen von Farben und Formen. Die Farbe begegnet Betrachtenden somit nicht nur als Farbe – nicht nur als schreiendes rot, sanftes blau, giftiges grün, sondern auch als Material. Karabinskiys Arbeitsweise zeichnet sich dadurch aus, dass er die Motive nicht aus dem Umriss einer Linie, einer zeichnerischen Skizze, sondern aus der Setzung der Farben entwickelt. Gennady Karabinskiy ist Maler, setzt Farbe an Farbe, Kontrast an Kontrast, nutzt Farbe als Fläche, als Eindruck, als Stimmung. Gennady Karabinskiy wurde 1955 in Weißrussland geboren, begann 1985 sein Studium der Bildenden Kunst in St. Petersburg und arbeitete daraufhin bis in das Jahr 2004 dort als Künstler. Karabinskiy arbeitet mit Öl- und Temperafarben, mit Pastell- und Ölkreide, mit Tusche. Auch Lithographie und Buchgraphik gehören zu seinen künstlerischen Techniken. Seine Werke sind seit dem Jahr 1989 auf internationalen Ausstellungen und in Privatsammlungen vertreten. 2004 kamen Gennady Karabinskiy und seine Frau Sofia nach Deutschland, um hier das Leben und die Träume zu verwirklichen, die ihnen in Russland unerreichbar schienen. Es ist eine Geschichte von der Suche nach einem Ort, der zu einem Zuhause werden kann. Nach einem Ort, an dem in Vergessenheit geratenes Wissen, Traditionen und Rituale wieder aufleben und ihre immer da gewesene Wesentlichkeit erlangen können. Traditionen, Rituale und althergebrachtes Wissen und Symboliken ilden daher nicht grundlos wiederkehrende Motive und Themen in Karabinskiys Werk. Nehmen wir Beispielsweise die Früchte als wiederkehrendes Thema: Sie symbolisieren Leben und Vergänglichkeit, Reifen und Verderben, Wachsen und Blühen, die Süße des Lebens, und die Unausweichlichkeit des Todes. Sie bezeichnen uralte überlieferte Symbolik. Zwei großformatige Bilder tragen im Titel das Wort Mizrach – Osten. Dies meint die Himmelsrichtung, zu der hin sich der fromme Jude zum Gebet wenden soll. In Synagogen und auch in Privathäusern wird diese Himmelsrichtung durch eine Wandverzierung mit religiösen Sprüchen oder Symboliken markiert. Es handelt sich um religiöse Tradition, ein Ritual, das hier von Gennady Karabinskiy aufgenommen, bearbeitet, neu belebt wird. Wenn wir als Betrachtende uns diesen Bildern zuwenden, wenden auch wir uns metaphorisch zu jenem Osten, zu dem sich viele gläubige Menschen täglich wenden. Ein gemeinsames Ziel, eine Gemeinschaft im Unbekannten, ein Beisammensein in der Verstreutheit. Die Arbeit „Mizrach – Zweiter Schuh ist schwarz“ gibt drei belebte Szenen zu sehen. Im Zentrum des Triptichons bilden die im Tanz erhobenen Arme eines kahlköpfigen Mannes eine Straße, auf der sich kleine weiße Häuser aneinander drängen. Der Kahlköpfige präsentiert beinahe herausfordernd seinen leuchtend roten Schuh mit der goldenen Schnalle. Der zweite Schuh – so verrät uns der Titel – ist schwarz. Doch sehen können wir ihn nicht. Der Titel verweist auf etwas, das im Außerhalb stattfindet – ein Verweis darauf, dass manche Wahrheiten für das menschliche Auge für immer im Verborgenen liegen werden? Oder ein Kunstgriff, der uns dazu bringen soll, in den vielfältigen Zeichen des Bildes nach Anhaltspunkten für diese Erzählung im Außerhalb zu suchen? Auch das Bild „Mizrach – Lied der Erwartung“ weckt unsere Neugier nach dem Geschehen jenseits des Bildes. Im Zentrum des Bildes verschwindet ein Weg hinter der Kuppe eines Hügels, führt ins Ungewisse und verweist auf ein Ziel, das dem Blick verborgen bleibt. Trotz des Reichtums an farbenfrohen Motiven – Fischen, Blüten, reifem Obst, die uns entgegen zu fallen scheinen – geht von diesem kleinen Weg eine Anzugskraft aus. Seine Metaphorik konkurriert mit der Zeichenfülle des Bildes. Er weckt die Erwartung, die die Musikanten am Wegesrand mit schwingenden Tönen unterlegen. Ein alter gebeugter Mann mit Kippa spielt abseits unter einem Baum sein Blasinstrument, er hat nicht Teil an der bunten Vielfalt, die sich im vorderen Zentrum des Bildes abspielt. In seinem besonnenen Spiel strahlt er eine Melancholie aus, die an der Seele kratzt. Er ist eines dieser poetischen Details, die Karabinskiy in seinen Arbeiten wirken lässt. Details, die ansprechen, für sich sprechen, wie die schmalen Hände der Dame im Bild mit dem Titel „Celia“, die sich um ein magentafarbenes Paar Handschuhe schließen. Eine vertraute Geste, die ein Gefühl der Verbundenheit weckt. Oder auch die Zigarette des Pianospielers im Bild „Bekannte Töne“, die sich während seines enthusiastischen Spiels langsam aufgelöst zu haben scheint und nun in seinem Mundwinkel zum Verglühen bestimmt ist. All dies sind Details, Fixpunkte, die unsere Blicke inne halten lassen, Gefühle wecken, Stimmungen verbreiten und uns so wohlbekannt, manchmal sogar intim erscheinen. Es sind diese Details und Fixpunkte an denen unsere Beziehung zur Kunst beginnt. Etwas, das uns anspricht, uns trifft und affiziert. Kunst findet dort statt, in diesen seltsamen unergründlichen Momenten des Getroffen-Werdens, des Nicht-Wegsehen-Wollens, des Staunens und Ergründen-Wollens, in diesen Momenten der Ruhe, in denen wir allein sind, im Zwie-Gespräch mit der Kunst. Für diese Momente stellt Gennady Karabinskiy eine Fülle an Anreizen bereit, mal poetisch, mal humorvoll, mal absurd, mal demonstrativ, immer farbenfroh. Begeben Sie sich auf die Suche nach Ihren Fixpunkten! |