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2016

Gennady Karabinskiy "Ein Klopfen an der Tür"

Jürgen Weichardt

Sie sitzen in einem Raum – solche Szenen finden Sie mehrfach in dieser Ausstellung –, und es klopft an der Tür. Sie erwarten niemanden – in der eigenen Wohnung stellen Sie sich sofort die Frage – wer ist das denn ?

Schon sind Sie auf dem Holzweg; denn solch eine Szene hat Gennady Karabinskiy nicht gemeint, wenn wir davon ausgehen, dass das Bild, das diesen Titel trägt, auch eine Erklärung enthält. Es ist ein Stillleben, kein Mensch zu sehen, auch keine Tür – das Bild gibt mit diesem Titel einen interessanten Hinweis auf ein Geräusch außerhalb der Komposition und kennzeichnet das Gezeigte demnach als Ausschnitt aus einem größeren Zusammenhang. Dieser Schlüssel öffnet den Blick für Gennady Karabinskiys Arbeitsweise und Vorstellungen: Jedes Bild ist Detail eines größeren, in seinen Dimensionen schwer abschätzbaren Handlungs- oder Bewusstseins- Zusammenhangs – Detail einer schlichten bürgerlichen Welt, eines überschaubaren offenen Raumes, aber einer vielschichtigen Erinnerung, einer religiösen Konstante.

Den Hintergrund oder die Basis deutet die große fünfteilige Komposition an mit dem abermals bemerkenswerten Titel: „Mizrach – Umgeworfener Himmel“. Kein surrealistischer, sondern ein mystischer Titel, den zu interpretieren wir uns schon anstrengen müssen. Mizrach ist laut Google eine Bezeichnung für Juden aus dem Osten, eher für Juden aus moslemischen Zonen als aus Osteuropa – aber der Begriff wird nicht einheitlich gebraucht, so dass er auch im erweiterten Sinn gebraucht werden kann. Die Fügung „Umgeworfener Himmel“ ist offen für manche Interpretationen – ich würde ihn nehmen im Zusammenhang mit Mizrach für einen Zustand zerstörter Ordnung, also vielleicht für das Verlassen einer Heimat, für den Verlust von Ritualen, für Migration. Allerdings zeigt die Komposition vornehmlich das, was verlassen werden musste – die Sicherheit im Glauben, angedeutet in den beiden Moses-Darstellungen, die Dorfgemeinschaft, die Freunde, die ihre lebenslustige Fröhlichkeit offen zur Schau stellten.

Das andere Bild trägt einen zwar in der Wortwahl deutlich auf den jüdischen Glauben bezogenen Titel, wiederum mit dem Begriff Mizrach voran, dem dann „Gebet an Schabbat - ein Gebet für alle“ folgt, wobei wir nicht vergessen sollten, dass ursprünglich einmal der Sabbat, der Ruhetag, auch im Christlichen vorhanden war.

Diese beiden Kompositionen, die wie manche Details zeigen, nicht einfach nur zusammengesetzt sind, sondern als Einheit komponiert wurden, dominieren die Ausstellung und ziehen auch alle anderen Bilder in ihre Sphäre, in ihren Bann.

Gennady Karabinskiy erzählt in ihnen Geschichten, die über die jeweils dargestellte Szenerie hinausreichen. Nehmen wir z. B. die Männer auf dem „unendlichen Weg“. Drei Männer, von denen wir nicht wissen, ob sie als Gruppe zusammengehören, mehrere Hinweise auf Motive, die inhaltlich kaum zueinander passen – weder die Schubkarre noch das darin ruhende Dorf, noch der Hund und die Blumen, wie einem Stillleben entnommen, ergeben zusammen einen realistischen Sinn. Ein arbeitender Mensch und zwei Musikanten – die vielleicht auch arbeiten oder aus Spaß musizieren oder beides. Ein Motiv, das der Künstler mehrfach wiederholt hat, weil es der Erinnerung oder den Erzählungen nach zum Leben, von dem erzählt wird, dazugehörte. Das Heitere, das viele Bilder von Gennady Karabinskiy beleuchtet, wird zwar von den Musikern betont, aber von dem armen Menschen, der die Karre schieben muss, konterkariert.

Es gehört zur Bild-Methodik von Gennady Karabinskiy, dass die Gesichter die eigentlichen Ausdrucksträger der abgebildeten Menschen sind – in den Gesichtern dieses Bildes lesen wir unterschiedliche Stimmungen. Allerdings – auslegen muss der Betrachter diese Stimmung selbst; der Künstler gibt seine Version vor, aber die ist offen für unterschiedliche Deutungen.

„Der unendliche Weg“ – das ist eine Zeitfrage. Unendlich erscheinen uns Wege, deren Ziel wir nicht kennen - solche Wege gehen wir meist nicht freiwillig, auch nicht, wen sie von Musik begleitet werden, zumal die Musiker auch nicht wissen, wohin der Weg führt. Wenn wir das Dorf – wenigstens symbolisch oder als Erinnerung– auf diesen Weg mitnehmen, dann sind wir gelöst vom Ausgangspunkt, vielleicht auf der Flucht, vielleicht auch nur in eine uns unbekannte Ferne, in die Zukunft. Hier taucht im Hintergrund der Begriff Mizrach wieder auf, ohne genannt zu werden.

Menschen verleiht Karabinskiy ein individuelles Aussehen. Jede einzelne Figur ist eine Schöpfung, auf die korrekte Anatomie kann der Künstler verzichten. Gewiss gibt es Arme, Hände und Beine und Füße, aber alle sind der Komposition, nicht der Anatomie unterworfen. Die Malerei Karabinskiys schafft eine eigene Welt. Sie kennt keine Wiederholung– aber auch keine für uns nachvollziehbare Ähnlichkeit mit lebenden Menschen. Doch können sie für Typen stehen. Der Künstler vermeidet durch eine liebevolle Darstellung, die gemalten Gestalten, Typen zu Karikaturen werden zu lassen wie z.B. am „Alten Freund“ zu sehen ist – ein alter Seemann, dessen rote Nase ebenso viel erzählt wie Bart und Pfeife, aber auch die Augen, deren Ausdruck Wehmut zu sein scheint. Worüber, das ist die Geschichte des Seebären außerhalb des Rahmens oder auf dem zurückliegenden, schon beinahe unendlichen Weg.

Immer gibt es Motiv-Details, die dem Ernst der Themen eine heitere, wenn nicht sogar eine witzige Note beigeben – im Allgemeinen könnte das schon bei den Musikern angedeutet werden, aber auch bei der Basis des Bildes, den Menschen im unteren Rang, an denen Gennady Karabinskiy immer wieder seinen Spaß hat. Und er versteht es, diesen ebenso zu vermitteln wie den Ernst der Szenen. Ein Beispiel sind die in einer Vase abgestellte Regenschirme, die die Vasenwände zu durchstoßen scheinen, während die Blumen im selben Gefäß ihr Wasser haben.

Allen Bildern gemeinsam ist die Malweise des Künstlers: Er entwickelt die Formen der Dinge, die Gesichter, die Gegenstände aus der Setzung der Farben, nicht aus einem zeichnerischen Umriss. Diese Farbigkeit wird zunächst aus kleinen in Form und Ton einander ähnlichen Pinselabdrücken entwickelt, zu denen dann bei einem anderen Detail Kontrastfarben hinzukommen können und die Farbkomposition spannend machen. In auffälliger Weise genügt es Gennady Karabinskiy nicht, eine Komposition in monochromer Farbigkeit aufzubauen. Die Welt ist bunt, die Heiterkeit farbig. Allerdings lässt sich unser Künstler auf die Buntheit der Realität nicht ein – er entwickelt eine von der gesehenen Welt ganz unabhängige Farbigkeit: Großflächig, aber in sich vielfältig differenziert, fordert eine Farbe die andere heraus und zwingt sie nicht nur zu einem Kontrast, auch zum Hell- Dunkel-Gegensatz und zu Farbenverläufen. Eine dritte Farbengruppe kann ins Bild kommen, sie mag ihrerseits provozieren, sie mag auch den ursprünglichen Kontrast reduzieren, sie erweitert das Farbenspektrum und mildert Gegensätze. Die Beeren und Trauben, die Apfel, Birnen und Zitronen, auch die Blüten an den Zweigen treten fast plastisch hervor; sie sind Fixpunkte in der reichen Farbigkeit der Bilder.

Die von den intensiven Farben ausgehende Heiterkeit korrespondiert mit der Formgebung der Dinge in der Bilderwelt Gennady Karabinskiys: sie zeigen eine zumindest geschwungene, fast barocke Kurvigkeit, sie drängt Vertikale und Horizontale aus dem Bilderrahmen hinaus. Gennady Karabinskiy konzentriert sich in dieser Auswahl auf Motive, die von Natur aus sich nicht den Geraden fügen und andeuten, dass das Wachstum in der Natur seine eigenen Gesetze hat. Diese Kurvigkeit gilt selbst für die Häuser, die einzeln oder in kurzen Straßenzügen in Bildecken oder zwischen den Dingen auftauchen und mit krummen Wänden und schrägen Fenstern den Druck der verrinnenden Zeit abfedern. Gennady Karabinskiy ist ein Meister, ein Zauberkünstler dieser aufkommenden und vergehenden, werdenden und verfliegenden Ding-Darstellung.

Die Zeit, in einigen Titeln angedeutet und schon angesprochen, wird sichtbar im allgemeinen Werden und Vergehen, in der Endlichkeit. Das Vergehen ist dem Werden unmittelbar eingegeben, sodass im Grunde auch in allen Motiven, die in den Bildern von Gennady Karabinskiy das Kommen, Entstehen, Erscheinen andeuten, das Vergehen mit gesehen werden müsste. Die Zeit durchdringt alle Räume, hebt sie auf: Es liegt nahe, die Stillleben in Innenräume anzusetzen; doch ist davon nur ganz selten etwas zu sehen – einmal eine Zimmerecke, sonst bleibt nur die Vermutung, dass sich die Stillleben in einem Zimmer befindet. Aber so wie die Formen in andere Farben tauchen und verschwinden, sind auch die Räume in dieser Bilderwelt grenzenlos und offen. Sie geben den Blick frei. Kurz – die Bilder von Gennady Karabinskiy kennen keinen festen Raum, sie sind so offen, wie sie im Fluss der Zeit dahinfliegen.

Gennady Karabinskiys Bilder sind keine Lehrstücke, sondern Malerei. Doch malt dieser Künstler auf der Basis einer festen Überzeugung und eines großen Wissens. Die Welt, die er uns zeigt, mag fern sein, aber gerade das macht den Reiz seiner Malerei aus – das Unbekannte im Bekannten zu entdecken.

Oldenburg,  23.Juni 2016   Jürgen Weichardt